Untersuchungshaft, Prozess, Strafvollzug, Freilassung
 

In der Untersuchungshaft in Berlin-Hohenschönhausen erlebte ich in den ersten Tagen zunächst die Wiederankunft meiner DDR-U-Haft-Zeit, denn 1984 hatte ich bereits in einer Stasi-Untersuchungs-Haft eingesessen. Wie zahlreiche Situationen, die prompt und zudem unerwartet auftreten und außerdem eine radikale Situationsveränderung herbeiführen möchte das Unterbewußtsein es zunächst nicht wahrhaben, während Bewußtsein, Körper und Sinne keine Wahl haben, mit der neuen Situation irgendwie umzugehen. Das Ereignis ist zu plötzlich über einen hereingebrochen und verändert die bisherige Situation allem subjektiven Anschein nach zu drastisch, sodaß das psychische Verdauungsorgan, nachdem der Brocken geschluckt werden mußte, ihn zunächst nicht fassen kann und permanent als Fremdkörper wieder ausstoßen möchte. Es deprimiert, die Tatsache anerkennen zu müssen, daß sich dies als illusorischer Wunsch heraus-
stellt. Statt den Brocken wieder loszuwerden bleibt einem nichts anderes übrig, als ihn irgendwie zu verdauen, wobei einem die Zeit und die  Ge-
wohnheit dabei helfen.
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1984 hatte ich ein halbes Jahr in Untersuchungshaft gesessen, deshalb ging ich auch diesmal von mehreren Monaten U-Haft aus. Als es dann am Ende nur etwas über zwei geworden sind war ich froh, denn Untersu-
chungshaft bedeutet vor allem, in nagender  Ungewißheit über das zu erwartende Strafmaß den ganzen Tag bei ausschließlich künstlichem Licht mehr oder weniger herumzuvegetieren. Die Zelle ist nichts weiter als eine Körperkonservierungsbox auf dem Minimal-Level des Überlebensmodus. In der Anfangszeit wird dieses Vegetieren noch durch mehrstündige Verneh-
mungen unterbrochen, deren Gehalt ähnlich wie das Zellenleben zu einer Distanz zum Leben führen. Als zum Vegetieren und zur bloßen Konser-
vierung Gezwungener redet man aus der Distanz eines Halbtoten über Aspekte seiner lebendigen Vergangenheit. Man betrachtet sie aus einer befremdlichen Perspektive durch die aufgezwungene Brille einer unter-
stellten Straftat, auch wenn sie für einen selbst keine solche ist. Wenn diese Vernehmungen dann irgendwann abgeschlossen sind wird das verordnete Herumlungern zum Dauerzustand, der durch das Lesen meist langweiliger Bücher und, wenn man nicht in Einzelhaft zubringt, Würfel-
spielen, Gymnastik und Gesprächen ein bischen abwechslungsreicher werden soll.

Was meine anfängliche Befürchtung betraf, durch die Situation von der Vergangenheit eingeholt zu werden, so stellte es sich bald als bloßes Phantasie-Produkt der Verunsicherung heraus, wie es häufig der Fall ist, wenn Menschen plötzlich mit extrem veränderten Situationen konfrontiert sind, deren Ausmaß sie noch nicht richtig einschätzen können und daher Überfremdung, Absorption, Überforderung und Identitätsverlust befürch-
ten. Ich bin über diese während der neuerlichen Haft gemachte Erfah-
rung dankbar, trotz Rückführung in die unangenehmen Aspekte der Vergangenheit letztlich von dieser nicht mehr zurückgeholt werden zu können. Wenn der Lebensgeist aus dem Käfig gewachsen ist, an dessen Gitterstäben er einst rüttelte, um der Verwirklichung seiner Vorstellungen Nachdruck zu verleihen, dann passt er nicht mehr in diesen Käfig hinein, sobald diese Vorstellungen über eine längere Zeit Wirklichkeit geworden sind. Zum freien Menschen bin ich im Grunde  erst richtig in dieser zwei-
ten Gefängniszeit geworden, indem ich gerade durch die Gestrigkeit der plötzlich aufgezwungenen Situation eine grundsätzliche  Unabsorbierbar-
keit an mir feststellte, die ich ohne diese- meine neue Freiheitsselbst-
verständlichkeit extrem herausfordernden- Umstände an mir so nicht hätte erfahren können. Äußere Einflüsse wie der zwar seltene, aber immerhin zustandegekommene Besuch meiner Freundin und eines Be-
treuers aus der bundesdeutschen Botschaft, die gemeinsame Haftzeit 
mit Gefangenen aus der BRD, darunter auch EX-DDR-Bürgern und die regelmäßige Fortführung eines Mindestmaßes meiner westlichen Ge-
nußgewohnheiten (Tabak, Cafe) trugen auch etwas dazu bei. 

Formalverteidigung

Was meine strafrechtliche Verteidigung anging so hatte ich -für mich selbstverständlich- Rechtsanwalt Schnur beauftragt, diese zu über-
nehmen, aber er antwortete auf meinen Brief nicht, sodaß ich auf 
Honeckers Häftlingsdealer Vogel angewiesen war, der mich in Gestalt seines Kanzlei-Kollegen Starkulla formal vertrat. Es handelte sich für
ihn tatsächlich bloß um eine formale Angelegenheit, denn die argu-
mentative Verteidigung hatte für dieses Anwaltsbüro keine Relevanz,
da sie gegen die finanziellen Argumente eines späteren Freikaufs 
nichts als überflüssiges Geschwätz waren. Insofern waren die Anwälte
Vogels echte Realisten, jedoch hätte eine argumentative Verteidigung dem Angeklagten in seiner Situation der Verächtlichmachung und hohen 
Strafandrohung durchaus nicht schlecht getan.
Es ging Vogels Abgesandtem nur darum, den späteren Freikauf zu er-
möglichen. Nachdem Starkulla meine Verteidigung offiziell übernommen hatte, bekam ich Wochen später einen Brief von Schnur, der mir erklärte, warum er sich erst jetzt melden konnte. Ihn zu beauftragen war nun nicht mehr möglich. Nichtsdestotrotz besuchte er mich eines Tages unverhofft und fragte mich über meine in Westberlin lebenden Ex-Weimarer Freunde aus. Zum Glück antworte ich nichts weiter als daß es ihnen gut ginge und sie jetzt das Abitur nachholen. Vier Jahre später wurde Schnur als ein Schwergewicht des organisierten Verrats und der vermutlich größte Stasi-Spitzel der DDR-Geschichte enttarnt. Seitdem glaube ich, den wahren Grund seines damaligen Besuches zu kennen.
 

Anklageschrift

Als ich im Dezember 1986 die Anklageschrift bekam war ich froh, denn sie bedeutete das ziemlich sichere Zeichen dafür, daß ich nicht mehr lange in Untersuchungshaft sitzen würde und so hätte auch meine Ungewißheit über das zu erwartende Strafmaß bald ein Ende. Die Anklage machte -wie nicht anders zu erwarten gewesen war- ihrem Namen alle Ehre. Man wurde hier bereits verurteilt, nicht zu Haftjahren, aber moralisch und psychologisch, indem man als niedere und destruktive Persönlichkeit behandelt wurde. Der Prozess war auf den 8.Januar 1987 angesetzt.

Prozesstag

Als es Wochen nach Erhalt der Anklageschrift zum Prozeß beim Bezirks-
gericht Berlin-Lichtenberg kam, war ich auf das Maximum an Strafe, also 8 Jahre zwar emotional vorbereitet, ging aber realistisch trotzdem von weniger aus und hoffte auch auf eine vorzeitige Entlassung durch Frei-
kauf. Zur Prozesseröffnung und zur Urteilsverkündung ließ man kurz meine Freundin und die westdeutschen Journalisten hinein. Den Pulk dieser in-
formationshungrigen Meute werde ich nie vergessen, weil ihr aufgeregtes Gebahren in heftigem Kontrast zu meiner existenzgeerdeten, medienab-
stinenten und langweiligen U-Haft-Realität stand, wohingegen sie die
rasenden Dienstleister medialer Kurzweiligkeit verkörperten. Sie er-
schienen mir irgendwie wie hysterische, geile Tiere. Und die Mehrzahl unter ihnen war es vermutlich auch.
Nach der Verkündung des Urteils wegen ungesetzlicher Grenzverletzung
zum Zwecke der Verschiebung der Staatsgrenzen zwischen DDR und Westberlin war meine Freundin von der Höhe der Strafe schockiert. Denn ich hatte 20 Monate zuzüglich einer 18monatigen Reststrafe zu verbüßen. Diesmal stimmte zumindest der Terminus Freiheitsentzug, denn da ich nun Westberliner war und in der Freiheit lebte, handelte es sich tatsächlich um einen Entzug derselben, wohingegen es sich bei meiner 1984er Verur-
teilung als DDR-Bürger nicht um Freiheitsentzug, sondern genau genom-
men um Haftverschärfung handelte, da ich ja aus meiner Sicht in der DDR ohnehin in einem riesigen Gefängnis lebte.
Die 38 Monate Gesamt-Strafe nahm ich ziemlich gelassen auf, weil ich mit einer höheren Strafe gerechnet hatte und zudem wußte, daß ich aufgrund des Freikaufs vermutlich allenfalls die Hälfte der eigentlichen Strafe von 
20 Monaten absitzen werde.
Herr Nelius, ein Betreuer der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, sprach sogar von einer baldigen Entlassung, aber auf dererlei Quasi-Zu-
sagen gab ich nichts, weil die Enttäuschung umso grösser sein würde, wenn sie nicht eintraten. Und über den Zeitpunkt der Freilassung ent-
schied ja letztlich die DDR. 

Als meine Freundin dann nach Prozessende für ein paar Minuten zu mir durfte, saß ich noch  immer auf dem Anklagestuhl.  Den Schock darüber , für so eine Handlung mindestens ein Jahr und sogar bis zu 8 Jahren im DDR-Gefängnis sitzen zu müssen hatte ich am Festnahmetag und in den ersten U-Haft-Tagen hinter mir. Bezüglich des Strafmaßes konnte mich nach diesem Schock eigentlich nichts mehr umwerfen. Doch meiner Freundin ging es an diesem Tag ganz anders. Wenn Bestrafung vor allem Wirkung auf die Psyche haben soll, so hatte man an diesem Tag eigentlich vor allem sie bestraft. Und das noch grundloser als man es mit mir getan hatte.

Strafvollzug Bautzen II. Ein Vergleich

Als ich Ende Januar nach einer mehrstündigen  Fahrt ins Ungewisse- denn niemand hatte mir vorher gesagt, wo es hingehen würde- im Strafvollzug Bautzen ankam, war ich positiv überrascht. Ich hatte es mir nach meinen Erfahrungen mit der DDR-Haft schlimmer vorgestellt. Es sind die kleinen Details, die den mehr oder weniger großen Unterschied machen. Details, die von einer objektivitätsorientierten Faktenfocussierung oft nicht erfaßt oder nicht so abgebildet werden können, daß ihre reale Wirkung wirklich-
keitsnah nachvollziehbar wird.

Nach den kleinen positiven Überraschungen beim ersten Gefangenen-
kontakt und bei Betrachten der Zelle, in der ich wohnen sollte registrierte ich in den Folgetagen nach meiner Ankunft unter anderem noch folgende angenehme Unterschiede.
In Bautzen II gab es wenige Ein- viele Zwei und wenige Drei-Personen-
Zellen. Da die in den Einzelzellen zubringenden Gefangenen während der Arbeit und beim abendlichen Fernsehen mit den anderen Gefangenen zusammen waren bedeutete die Einzelhaft keine Isolation, für manche bedeutet sie sogar den Luxus des individuellen Rückzugsraumes. Im Gegensatz z.B. zu den flächendeckend mit je 2 Dreistockbetten aus-
gestatteten offenen Zellen im Strafvollzug Karl-Marx-Stadt, die immer offen waren und daher den übrigen ca 70 Gefangenen jederzeit Zutritt gewährten, sodaß Ruhe und Rückzug nicht möglich waren. 

In Bautzen II hatte jede Zelle ihr eigenes Radio und wenn einem das, was gerade gespielt wurde, nicht gefiel, konnte man es ausstellen. In
Gefängnis Karl-Marx-Stadt dröhnte das Radio über den Flur und bohrte seine DDR-Schlagermusik und realsozialistischen Siegesbilanzen auf dem Flur und in den Zellen in 200 Ohren, ohne daß irgendein Gefangener sich dem Lärm entziehen konnte.

In Bautzen II konnte man andere Mitgefangene in dessen Zellen besu-
chen, um mit ihnen bei einer Tasse westdeutschem  Cafe Aquarell zu malen oder Karten zu spielen. Dazu ließ man sich in der betreffenden Zelle der Mitgefangenen einschließen, um während dieser Zeit von anderen Gefangenen nicht gestört zu werden. In Karl-Marx-Stadt war dies niemals möglich.

In Bautzen II waren Gefangene eingesperrt, deren Sozialisation nicht, wie bei zwei Dritteln der Gefangenen in Karl-Marx-Stadt in Schultoiletten, Hilfsschulen, Jugendwerkhöfen und im Gefängnissen stattgefunden hatte.
Vor dem Gesetz sind zwar alle gleich, aber wenn das Gesetz eines des Unrechts ist bedeutet eine solche Gleichheit die zusätzliche Strafe, 
permanent mit Menschen zusammenleben zu müssen, mit denen man unter freien Umständen keine fünf Minuten verbringen würde. 

In Bautzen II hörten wir mindestens eine Stunde vor dem regulären 
Arbeitschluß mit dem Arbeiten auf, unterhielten uns, laßen Zeitung, tranken Cafe  und spielten Karten, da -im Gegensatz zum Stravollzug Karl-Marx-Stadt- niemand zugegen war, der uns beim Arbeiten überwachte. 

Auch gab es, wie es in DDR-Haftanstalten sonst üblich war. keine zu absolvierenden Belehrungstunden bei kleineren Normverstößen.

Die Wände dekorierende Spruchtafeln mit Parolen wie z.B. "Wenn Du nicht willst, zwingen wir Dich" fand ich -im Gegensatz zum DDR-Strafvollzug- in Bautzen II keine einzige vor.
 

Ich könnte noch einige weitere Beispiele aufzählen, aber bereits die hier genannten fünf enthalten soviel erhebliche Hafterleichterungen, daß die beiden Gefängnisse im Grunde völlig unterschiedliche Strafmaße vollzogen. Denn nicht nur die zeitliche Urteilshöhe bestimmt das Strafmaß, sondern natürlich auch die Bedingungen, unter denen die Strafe verbüßt werden muß.

Bautzen II war ein Gefängnis für besondere Fälle. In den unteren, den DDR- Etagen saßen Dissidenten wie Rudolph Bahro ein, in der oberen Etage brachten wegen DDR-Flucht-Hilfe und Spionage zu hohen Strafen verurteilte Bundesbürger zu. Meine Vermutung ist, daß diese vergleichs-
weise leichten Haftbedingungen darauf zurückzuführen sind, daß es sich um Gefangene handelte, die einen hohen Wert für die DDR besaßen. Entweder, weil man sie als Objekte im Gefangenenaustausch mit den eigenen im westlichen Ausland inhaftierten Spionen benötigte oder weil  für die vorzeitige Entlassung durch Freikauf mehr Geld bezahlt wurde als für normale DDR-Bürger, die aus der Haft heraus in die BRD freigekauft wurden.  Der Austausch- und Geldwert ist die eine Komponente der Hafterleichterungsgründe, aber sie wird nur wirksam, wenn man die andere Komponente berücksichtigt: Die Gefangenen, die in Bautzen II inhaftiert waren, hatten alle hohe bis sehr hohe Strafen zu verbüßen. Angesichts dieser hohen Strafen hätten Haftbedingungen, wie sie in normalen DDR-Haftanstalten bestanden, psychische Erkrankungen bis hin zum Selbstmord noch viel mehr heraufbeschworen, als wie sie es durch die enorme Straflänge und das Eingesperrtsein ohnehin schon taten. Es handelte sich ja zudem bei den Gefangenen auch nicht um Personen, die in zerrütteten Familien und häufigen DDR-Gefängnisaufenthalten sozia-
lisiert worden waren und darum eine entsprechende Robustheit und Ab-
stumpfung den DDR-spezifischen  Haftbedingungen gegenüber erlangt hatten, sodaß ihrer normalen Sensibilität einigermaßen Rechnung getragen werden mußte, wenn man sie als Menschen- oder Geldtauschwerte er-
halten wollte. 

Da es sich ungeachtet dieser genannten Erleichterungen um ein Ge-
fängnis, zudem dem eines totalitären Gesellschaftssystems handelte war ich selbstverständlich sehr froh, als ich im Juni 1987 wieder nach Westberlin entlassen wurde. Ich hatte etwa 7einhalb Monate lang täglich 38 Monate in Haft zugebracht, denn neben realer Haftzeit und den Haftbedingungen gehört auch das Hafturteil mit zur Haftbedingung. Kalfaktor Willi beispielsweise saß circa 10 Jahre lang täglich lebens-
länglich. Nach etwa 10 Jahren wurde er, wie ich später erfuhr, dann im Spionaustausch vorzeitig entlassen. Ein wahrhaft hartes Urteil.  Ein Jahr Gefängnis beispielsweise kann ein ganz verschiedenes Strafmaß bedeu-
ten. Denn es ist  ein Unterschied, ob man mit lebenslänglichem Urteil z.B. wegen eines Gerichtsirrtums oder Freikaufs nach einem Jahr aus der Haft entlassen wird oder ob man zu einem Jahr Haft verurteilt wird, welches man dann auch absitzt. Nacher haben beide die gleiche Haftzeit abge-
sessen, aber waren doch ganz unterschiedlich hart gestraft  Denn die zu erwartende Straflänge gehört wie gesagt ebenso zu den Haftbedingun-
gen. Die Bestrafung soll ja vor allem eine psychische sein.

Der Alltag im "berüchtigten" Zuchthaus

Wochentags arbeiteten die Gefangenen von frühmorgens bis nachmittags um halb vier. Der vielleicht 100 qm  große Arbeitsraum befand sich gleich neben dem Zellentrakt und war in wenigen Sekunden erreichbar. Die Arbeit bestand aus dem Montieren von Elekrogehäusen am Band. Wer unter der Arbeitsnorm lag bekam keine Strafen. Die Post wurde nach der Frühstückspause ausgeteilt. Nach dem Mittagessen gab es eine halbe Stunde gemeinsamen Freigang im Hof. Nach dem Freigang wurde nur noch eine geringe Zeit gearbeitet, anschließend bei Cafe oder Tee Zeitung gelesen, Karten gespielt und sich unterhalten. Dies war möglich, weil es im Arbeitsraum keine Kontrolleure gab. Nach der Arbeit blieben die Zel-
lentüren zunächst geöffnet, es wurde geduscht, wobei immer die Perso-
nen einer Zelle gemeinsam duschten. Bis zum abendlichen Fernsehen entspannten die Gefangenen auf den Zellen, lasen Bücher, schliefen etwas, spielten Schach, lasen, schrieben Briefe oder unterhielten sich. Auf der Zelle gab es ein Radio, wobei der Sender von außen eingestellt und nicht wählbar war. Man konnte aber die Lautstärke des Radios einstellen oder es ganz abstellen, wenn einem das Programm nicht gefiel.
Abends gegen 20 Uhr gab es bis 22 Uhr Fernsehen im Fernsehraum, wobei man die Wahl hatte, fern zu sehen oder auf seiner Zelle zu bleiben. War man allein auf seiner Zelle, weil sich der andere Gefangene im Fernseh-
raum aufhielt, konnte man ungestört malen, lesen, schreiben. Am Wo-
chenende konnten sich einzelne Gefangene, die nicht zusammen eine Zelle bewohnten, zusammen auf der Zelle eines oder meherere Mitge-
fangener einschließen lassen, um bei Cafe, Gebäck und Zigaretten Schach oder Karten zu spielen oder sich zu unterhalten. Weitere, sporadische Freizeitmöglichkeiten waren Tischtennis und Filme auf Großleinwand, die dann im Fernsehraum aufgespannt wurde. Eine typische 2-Mann-Zelle bot Platz für ein Dopelstockbett, einen parallel zur Bettlänge des Bettes gros-
sen Schrank, dazwischen ein ein Meter breiter Gang. Bett, Gang und Schrank endeten an der Fensterwand, die oben ein normales durchsich-
tiges Fenster hatte. Im Zelleneingangsbereich befand sich links von der Tür ein Toilettenbecken, circa ein Meter davor am der Wand befestigt ein Allzwecktisch. Rechts im Eingangsbereich befanden sich Waschbecken, Mülleimer und Kosmetik-Regal.

Einmal im Monat konnte man von einem Angehörigen besucht werden. Auch ein Betreuer der Ständigen Vertretung besuchte einen alle paar Wochen. Von Angehörigen und der Ständigen Vertretung der BRD  konnten auch sporadisch Pakete geschickt werden, sodaß westliche Rauchwaren und Cafe zum alltäglichen, westliche Süss-und Wurstwaren und westliches Obst zum außeralltäglichen Konsum gehörten.

Entlassung 

Eines Tages verbrachte man mich in eine leere Zelle. Zwei meiner Mit-
gefangenen kamen später hinzu. Wir vermuteten eine ärztliche Routi-
neuntersuchung, aber schlossen auch eine mögliche Freilassung nicht aus. Nach längerer Wartezeit wurde ich in einen Gefängnistransporter gebracht. Wo die anderen geblieben waren,wußte ich nicht, denn mein Transport von der Zelle in das Fahrzeug verlief separat und sobald ich mich  in der kleinen Zelle des Fahrzeugs hinter verschlossener Tür befand war die Außenwelt für mich optisch verschlossen. In Ostberlin traf ich die beiden Mitgefangenen in der Anwaltpraxis Vogels wieder. Vermutlich waren sie im selben Transporter gekommen. Es gab keinen Zweifel mehr, wir würden bald frei sein. Diese Vorfreude in der Gewißheit, kurz vor der Entlassung aus dem Gefängnis in die wirkliche Freiheit zu stehen gehört zu den größten Freuden, die ich erleben durfte.  Mit dieser Art Freude bin ich in meinem Leben zweimal "beschenkt" worden. Dieser Moment ist die eigentliche Wiedergutmachung für die Strafe des Gefangenseins. Bizarrer Weise wäre ohne diese jene nicht möglich geworden.

Am 18.Juni 1987 wurde ich in einem Diplomatenwagen über die Grenze nach Westberlin in Rechtsanwalt Näumanns Büro gebracht, der das Westberliner Pendant zu Vogels Büro darstellte und dessen Verhandlungs- und Geschäftspartner beim inneren Gefangenenaustausch und Häftlings-
freikauf  gewesen ist. In Näumanns Büro hatte ich meine Ankunft  schriftlich zu bestätigen und wurde auf die Strasse entlassen. Ich kaufte mir 2 oder 3 Bier, fuhr zum Ort meiner Festnahme und als die eine Büchse ausgetrunken war, warf ich sie über die Mauer in den Todesstreifen.
Ich war so leer und leicht wie diese Büchse. 
Für die unmittelbare Zukunft und ihre Ereignisse war also wieder viel Platz in mir.


 
 

Anmerkung:
Mit den Brüdern Onißeits und mir gründeten drei der Teilnehmer an der Strichaktion etwa drei Monate nach meiner Entlassung eine Musikgruppe, zu der auch zwei andere Personen  gehörten, welche für die Teilnahme an der Strichaktion infrage kamen, aber an ihr aus unterschiedlichen Gründen nicht teilnahmen.
Die künstlerischen Aktivitäten der Strichakteure setzten sich also später fort.Vom Zerfall der Gruppe, ob man sie nun vermessen Künstler- oder
aktionsbezogen Mauerstrichgruppe nennt, kann keine Rede sein, zumal neben dem Musikprojekt später  auch noch andere kleinere Kollaborationen stattfanden.

 


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